Kreiseigener Rettungsdienst: Leben retten aus dem Effeff

Gütersloh. Irgendein Wohnzimmer zwischen Knetterhausen und Kaunitz. Irgendwann zwischen Lokalzeit und Tatort: Beim Suchen der Fernsehzeitung hat die alte Dame die Teppichkante übersehen: Gestürzt, Oberschenkelhalsbruch, Schmerzen. Warten bis der Notarzt kommt? Nicht nötig.

Wird die 112 gerufen, ist meistens der Rettungswagen als erster vor Ort, nicht das Notarzteinsatzfahrzeug. Einige Maßnahmen, die ursprünglich Notärzten vorbehalten waren, sind nun für die Frauen und Männer mit Notfall-sanitäterausbildung gesetzlich definierter Standard. Sie dürfen einen Notfallpatienten auch ohne Notarzt eigenverantwortlich versorgen. Beispielsweise nach einem Bruch Schmerzmittel verabreichen und die Patientin fachgerecht lagern. Lange, quälende Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes werden so durch die Besatzung des Rettungswagens abgekürzt. Und häufig ist die Beteiligung des Notarztes gar nicht mehr erforderlich.

Von Pseudo-Krupp bis Lungenkollaps

Im Kreis Gütersloh geht der Rettungsdienst bewusst den Weg der Vorabdelegation. Dr. Bernd Strickmann, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, erklärt: „Das bedeutet, dass ich als zuständiger leitender Arzt den Notfallsanitätern für zuvor klar definierte Fälle bestimmte medizinische Befugnisse erteile, damit sie heilkundlich tätig werden dürfen.“ Sinkt da nicht die Qualität? Können die Leute auf dem Blaulichtwagen mit den Befugnissen überhaupt umgehen? Solche Fragen bekam Strickmann zu hören, als man sich im Kreis Gütersloh für die große Bandbreite der Vorabdelegationen entschied. Nein, im Gegenteil. Zu diesem Weg gehöre großes Vertrauen in die exzellente Fachkompetenz der Retterinnen und Retter. Und das habe er.

Grundvoraussetzung ist eine dreijährige Ausbildung zur Notfallsanitäterin
oder zum Notfallsanitäter. Für die Befugnisse gibt es einen definierten Indikationskatalog. 38 so genannte Behandlungspfade müssen Notfallsanitäter kennen. 25 Notfallmedikamente gehören zum Repertoire, die gemäß des Befundes streng definiert verabreicht werden dürfen. 18 so genannte invasive Maßnahmen sind für die hoch qualifizierten Frauen und Männer möglich. Beispiel: Atmung und Kreislauf sichern, Venenverweilkanülen legen, beim Lungenkollaps eine Brustkorbpunktion durchführen oder eine Kehlkopfkanüle wechseln, weil jemand akut in Atemnot geraten ist. Nie ohne die juristischen Aspekte jeder Behandlung genau zu beachten. Dass auch das Rechtliche sitzt, sieht im Nachgang einer der Rettungsdienst-Oberärzte an den Protokollen.

Ohne Fortbildung geht das nicht. „Verantwortung delegieren, das kann man nur, wenn man weiß, dass die Qualität passt“, sagt Strickmann und geht damit einen etwas eigenen Weg, den das Gesetz bewusst einräumt: Für einige Krankheitsbilder gehen die Maßnahmen der Notfallsanitäter im Kreis Gütersloh weiter als andernorts. „Dafür sind die Fortbildungen bei uns im Kreis länger als gesetzlich gefordert. Unsere Fachleute sind Experten auf ihrem Gebiet. Die Frauen und Männer gehen die Behandlungspfade mit höchster Kompetenz und Perfektion durch. Durch ständiges Üben und regelmäßiges Anwenden haben sie ihre Routinen verfeinert – zur Sicherheit unserer Patienten“, so der ärztliche Leiter der Lebensretter.

Kein einziger gefährlicher Zwischenfall

Vertrauen ist gut. Kontrolle muss sein. Innerhalb einer Woche wird evaluiert. Jeder Notfallsanitäter schreibt zu jedem Einsatz ein elektronisches Protokoll. Sofern Heilkunde ausgeübt wurde, geht dies automatisch an die ärztliche Leitung. Einer der vier diensthabenden Oberärzte sendet dem Notfallretter ein strukturiertes Feedback zu seinem Fall zurück. So kommen pro Jahr 2.000 Rückmeldungen zusammen. „Manchmal mit kleinen Verbesserungsvorschlägen, meistens mit Lob“, sagt Strickmann. Und er ist stolz. Über zweieinhalb Jahre hat er wissenschaftlich 1.931 Schmerzmittelgaben-Protokolle ‚seines’ Teams genauestens evaluieren lassen. Resultat: Es hat nicht einen gefährlichen Zwischenfall gegeben und die Schmerzbekämpfung ist selbst bei sehr starken Schmerzen erfolgreich.

Überzeugt ist Strickmann, dass einzig ein kompetenter, vertrauter Personalstamm mit ständigen Trainings diese Behandlung auf höchstem Niveau ermöglicht. Dabei hat er auch die weniger umfangreich ausgebildeten Rettungssanitäter im Blick. Beim Notfall müssen sie nämlich dem höher qualifizierten Notfallsanitäter assistieren. Besonders gut geht das nur mit ständiger Aus- und Fortbildung.  Dank der engen Zusammenarbeit der Experten in der Rettung und der Vertrautheit untereinander dürfen sich Patienten im Kreis sicher fühlen. Dazu trügen auch die politischen Vertreter bei. Kein Geld ohne den Beschluss des Kreistages. Und der ermögliche immer wieder qualifiziertes Personal, neueste Technik und neue Behandlungsmethoden.

Vorteile für den ländlichen Raum

Markus Brock, Leiter des Rettungsdienstes beim Kreis Gütersloh, findet die Vorabdelegation gut. „Damit wurde das neue Berufsbild entscheidend aufgewertet“, sagt er. Beispiel: Allergischer Schock nach Wespenstich. In dieser Lage können die Minuten ohne Medikamentengabe fürs Überleben entscheidend sein. „Es ist richtig, dass unsere Notfallsanitäter heilkundlich tätig werden dürfen. Mit den erweiterten Kompetenzen können sie nun das, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, auch im Alltag anwenden“, so Brock: „Gesundheit ist unser höchstes Gut.“ Stets wird nach einer Medikamentengabe durch Notfallsanitäter ärztliche Versorgung gewährleistet, entweder durch den zusätzlich alarmierten Notarzt oder nach dem Transport im Krankenhaus. Vorteile sieht Brock besonders für unseren ländlichen Raum: Die knappe Ressource Notarzt werde geschont. Diensthabende Ärztinnen und Ärzte könnten sich auf solche lebensbedrohlichen Notfälle konzentrieren, für die sie unentbehrlich sind. Das Notarztwesen wird also keinesfalls abgeschafft.

Güterslohs eigene Wege

Auch beim Schmerzmanagement geht das Gütersloher Team – ganz legal – eigene Wege. Nalbuphin hat sich zwar als ein sehr altes, erprobtes und sicheres Medikament erwiesen, war im deutschen Rettungsdienst jedoch weitgehend unbekannt. In der täglichen Praxis auf dem Wagen hat das Team in unserem Kreis damit seit 2019 aber beste Erfolge. Wie kann man das messen? Dazu wird die numerische Rating-Skala verwendet. Der Patient wird aufgefordert, seinen Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10 einzuordnen. 10 steht dabei für die stärksten vorstellbaren Schmerzen, 0 für Schmerzfreiheit. Im Durchschnitt  geben die Patienten zu Beginn der Behandlung einen Wert von 8,4 an. Nach der Schmerzbehandlung liegt der bei 3,7. „Im Rettungseinsatz von über 8 auf unter 4, das ist mehr als eine Halbierung. Darauf schielen auch andere Rettungsdienste, bei denen deutlich weniger Maßnahmen erlaubt sind“, weiß Brock.

Ein Geheimnis machen die Retter nicht daraus. Inzwischen wird Strickmann deutschlandweit nach diesem ‚Kreis Gütersloher Schmerztherapie-Konzept‘ gefragt und gibt es gerne weiter. In Kürze wird ein internationales Fachmagazin aus Italien über die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gütersloher Schmerzbekämpfung berichten. „Wir haben motivierte, fähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem seit Jahren verlässlichen Personalpool. Vielleicht konnte ich auch deswegen diese außergewöhnlichen Wege gehen“, denkt Strickmann laut nach.

Rettungsdienst
Rettungsdienst

In Signalorange bereit zum Einsatz auf dem Rettungswagen: Diese Frauen und Männer haben die dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter bestanden. In 2023 haben acht junge Leute mit der Ausbildung begonnen.

Fotos: Kreis Gütersloh